Krieg

not yet, sorry

1. Ein Sechser im Lotto

Es regnete. Ich habe oft gehört, daß es nicht regnen sollte, wenn eine Geschichte anfängt. Nichts zu machen, es regnete sogar in Strömen. Und der kahlrasierte Boden, er hatte die Fähigkeit verloren, auch nur einen Tropfen des Wassers in sich aufzunehmen. Das Wasser floß die Abhänge hinunter, über dich hinweg, an dir vorbei, ein gelber, flächenhafter Strom, der alles Lebendige in Totes verwandelte, um es mit sich zu nehmen und sich irgendwo und irgendwann mit einem anderen Strom zu vereinigen. Um sich gemeinsam mit allen Wassern dieser Welt dem Null-Niveau entgegenzuwälzen. Gelbe Vorboten des Nichts. Ich mußte an die Luftbilder denken, die im geologischen Institut an den Wänden hingen, in den langen, kahlen Gängen, in der weit entfernten Heimat. Im künstlichen Licht glänzende Fotografien, eingezwängt zwischen verschlossenen Türen, sich spiegelnd in stumpfem Linoleumboden. Von wissenschaftlichen Kennerminen gebändigte Fotografien, die diese gigantischen Wassermassen zeigen, die sich gelb in das Meer wälzen und dem Betrachter nicht den Hauch dieses Wahnsinns näherbringen können.
Es regnete, und Gregor beugte sich zu mir hinab. Die Locken seines Haares fielen mir in die Stirn. Ich kniete auf dem Boden, spürte die Kälte des Lehms durch den Stoff meiner Hose dringen und versuchte, dem Schnürsenkel eine Schleife abzuringen. Gregor beugte sich noch eine Idee tiefer hinab. Wenn ich einfach losbuddeln würde, meine Arme immer wieder tief in den Boden schlagend, wie lange würde ich wohl brauchen, um den Lehm hinter mir zu lassen?
- Du willst dich allen Ernstes darauf einlassen, auf sowas? Mensch Wolfgang!
Ich überhörte die Frage, es war seine Anspannung. Meine Augen richteten sich auf die Szene, die sich einen Steinwurf entfernt abspielte. Der Schnürsenkel riß einmal mehr. Mein linker Stiefel war mittlerweile nicht viel mehr als eine Ansammlung von Löchern, und Lehm. Klebrigem, aufdringlichem, ewigem Lehm, der sich an deinen Fußsohlen festkrallte wie ein verzweifeltes Lebewesen, auf der Flucht vor dem Strom. Hatte nicht eine unserer Religionen den Menschen aus diesem Material geschaffen? Der Kreis des Lebens, der sich vor meinen Augen schloß. Die Rückkehr des Menschen in die Ursuppe. Hinweggerafft vom zweiten Element. Meine Finger waren klamm, mein Knie fühlte sich taub an. LEHM. Wie seltsam tot dieses Wort jetzt vor mir steht. Wenn ich es ausspreche, bedeutet es mir nichts. LEHM. Wenn ich es ansehe, sagt es mir nichts. Ich müßte schon meine Nase reinstecken. Lehm ist nicht gleich Lehm. Der von damals war von der schlimmeren Sorte. Meine Finger schafften es nicht, und ich entschied mich für den Knoten. Aus dem abgerissenen Schnürsenkel zog ich die einzelnen Fasern.
Die Leute hier hatten kein Geld gehabt, zumindest nicht genug. Ich war mir sicher, daß sie den Eindringlingen alles gegeben hatten, was sie besaßen. Es gibt in dieser Gegend keinen Menschen, der sein Geld mit in den Tod nimmt, wozu auch? Der Kopf der Bande kam aus einer der Hütten und zerrte eine Frau hinter sich her. Ich war versucht, wegzusehen und starrte statt dessen hin. Sie hatte eines dieser bunten Tücher um die Hüfte geschlungen, in denen sie ihren Kleinkindern die Welt zeigen. Das Tuch war ausgebeult, und leer. Ihr Blick bewegte sich langsam nach rechts. Er blieb stehen und zuckte zurück. Irgendwo zwischen den Hütten schrie ein Schwein. Ich glaube, daß es ein Schwein war. Gregor bewegte einen Fuß, der Schlamm schmatzte.
- Mensch Wolfgang, du willst dich darauf einlassen?
Seine Haare klebten an meinen Wangen. Ich nahm sie aus dem Gesicht und blickte auf.
- Was soll das heißen, ob ich mich darauf einlassen will?!
- Ich habe Angst!
- Ich habe auch Angst!
- Ich bin kein Held!
- Was für ein Anspruch!
- Du wolltest in dieses Land, es war deine Idee.
- Es ist ein schönes Land, und es war eine gute Idee.
- Schönes Land?! Gute Idee?!
Seine Hand beschrieb einen weiten Bogen.
- Gute Ideen können nicht immer gut enden.
- Es war auch deine Idee, Richtung Küste zu gehen.
- Ich mag nun mal das Meer.
- Und das hier?!
Er trat seine Schuhspitze in den Schlamm und sah mich herausfordernd an. Auch ich war angespannt, aber Gregor war kurz vor dem Durchdrehen.
- Willst du mir unterstellen, daß ich das hier gerne mitmache?!
- Es war doch nicht meine Idee ...
- Aber du bist mitgekommen, also hör auf.
- Ich habe Angst. Entschuldige bitte. Es ist nur, weil ich solche Angst habe.
- Ja ja ja, es wird schon wieder.
Allein der Gedanke an einen Ausweg brachte mich der Hysterie nahe. Es gab keinen Ausweg. Ich rieb die Fasern des abgerissenen Schnürsenkels in meiner Hand zu einem Knäuel. Die beiden kamen auf uns zu, und es hätte genauso gut der Himmel auf uns hinabstürzen können. Die Frau war ein Mädchen. Der Anführer zog es hinter sich her, und es rutschte immer wieder aus, fiel in den Schlamm und kämpfte sich hoch. Schließlich gab es den Kampf auf und blieb liegen. Er verschnaufte kurz, wechselte die Zughand und schleifte es hinter sich her, den Oberkörper nach vorne gebeugt und sein Gewicht in den Boden stemmend. Das Mädchen lag auf dem Rücken. Er hatte es an einem seiner Handgelenke gepackt, und das Handgelenk war schmal und naß vom Regen und drohte durch seine Faust zu schlüpfen. Seine Hand faßte immer wieder nach. Die Füße des Mädchens formten schmale Spuren im Schlamm und ließen weiße Weihnachten in meinem Kopf entstehen, Kufen im Schnee, sich verzweigende Schlittenspuren, lange Unterhosen, Kniestrümpfe, lachende Kinder, lachende Väter, lachende Mütter, und der fallende Schnee, der seinen Mantel über die Spuren legt. Das bunte Tuch verfing sich in einer Wurzel, und der Anführer zerrte heftiger. Mädchen und Tuch lösten sich voneinander, mit einem Ruck, der ihn fast aus dem Gleichgewicht brachte. Er sah sich kurz um und ging weiter. Dann waren sie direkt vor uns, und sie kam auf die Beine. Er genoß den Augenblick und stand eine Weile einfach nur da. Ich zog einzelne Fasern aus dem Knäuel und sah die Spuren entlang, die sich von den Füßen des Mädchens Richtung Hütte hinzogen und sich nach dorthin verwischten. An manchen Stellen waren die Spuren unterbrochen, oder sie rissen aus, seitlich. Ihr Tuch hing in der Wurzel fest. Das eine Ende folgte dem Wasser, und das andere klammerte sich an das Holz. Der Stoff nahm die Farbe des Lehms an. Er zog sie nach vorne, stellte sie vor sich hin und spannte eine Hand um ihren Nacken. Seine Finger legten sich über ihr Schlüsselbein. Ihre Fußspitzen zeigten nach innen, und ihre Knie stießen aneinander. Die Kniescheiben hoben sich weich und rund ab und zitterten leicht, unter dem Stoff ihres Kleides. Der Schlamm gab ihrer Haut eine schmutzige Farbe. Die Zehennägel waren lackiert. Durch die Spalten zwischen den Zehen quoll der Lehm und legte sich über den Fußrücken, um vom Regen wieder zurückgespült zu werden. Der Anführer trat einen Schritt nach vorne und schob sie auf uns zu. Ich vermied den offenen Blick, schielte sie aus den Augenwinkeln heraus an. Sie trug ein erdfarbenes, einfaches Kleid aus grobem Stoff. Es schloß unterhalb der Kniescheiben ab und klebte ihr am Körper. Das Kleid war trägerlos und hatte oberhalb des Beckens den Schnitt eines eng anliegenden Pullovers. Nur ihr Hals war frei. Die Muskelstränge zeichneten sich überdeutlich ab, wie bei einem alten, fleischlosen Mann. Darüber ihr breites Gesicht, mit der flachen Nase und den hervorstehenden Wangenknochen. Das Gesicht einer India. Ich sah es an. Der Blick, mein Gott, dieser Blick. Ich kannte diesen Blick. Sie hatte ihn nach innen gerichtet, um sich nach außen hin zu schützen. Trotzdem drang der Blick in mich, um sich dort etwas zu holen, ich spürte ihn. Ich wollte weg und konnte nicht weg. Es war etwas, was ich ihr genommen hatte, ihr und ihrem Geschlecht. Es wäre mir lieber gewesen, wenn sie geschrien hätte. Aber ihr Mund war verschlossen, genau wie der Blick. Der Anführer baute sich vor uns auf und lachte, sein Daumen hing in der Gürtelschnalle.
- Wer will?
Ich blieb hocken, wartete auf den Schrei und starrte in den Boden. Es war lange her. Vielleicht sollte ich ihm seine Schuhe küssen, um diesen bitteren Geschmack der Erinnerung loszuwerden? Gute Bergsteigerstiefel, weiches, festes Leder. Gute Schnürsenkel, eine doppelte Schleife. Ich schüttelte langsam den Kopf und hob langsam meinen Blick. Ich mußte ihm standhalten, ohne ihn zu provozieren. Den Blickkontakt meiden, ohne wegzusehen. Schwarze, verdreckte Hosen aus Leder, seine Hand vor dem Schritt. Er liebte das Leder. Ein Bauch ohne den geringsten Fettansatz. Er liebte die Muskeln. Der Brustkorb ohne Bewegung, fast schläfrig. Das Gesicht war meinem Freund zugewandt. Das Gesicht des Mädchens blieb verschlossen. Diese verdammte Angst, sie schnürte mir die Kehle zu. Sie kam jetzt von überall her, und die Unantastbarkeit des Mädchens, sie lastete auf mir wie ein Alptraum, wie die einzige verdammte Wirklichkeit dieser verdammten Welt. Ich rieb die Fasern zwischen Daumen und Zeigefinger zu einem Knoten, so fest, daß es schmerzte. Der Anführer genoß den Augenblick und deutete mit einer unwiderruflichen Geste auf meinen Freund.
- Für dich amigo. Greif zu.
Er schleuderte das Mädchen in seine Arme. Gregor öffnete die Hände und fing den Körper auf. Ihr Schweigen tilgte alle Geräusche. Lautlos teilte sich das Wasser vor ihren Füßen, lautlos stürzte der Himmel über ihr herab. Gregor trat einen Schritt zurück, die Handinnenflächen nach außen gekehrt. Das Mädchen stand jetzt direkt vor ihm und berührte ihn nicht. An ihren beiden Fußballen, da, wo sich die großen Zehen fast berührten, bildete sich ein kleiner Strudel. Sie war barfuß, was auch sonst. Ich klemmte den Knoten ein und schnippte ihn Richtung Strudel. Die meisten einfachen Menschen in dieser Gegend laufen barfuß rum, und es gibt hier nichts anderes als einfache Menschen, el pueblo del campo. Der Knoten verfehlte den Strudel. Die Stille wuchs an und dröhnte in meinen Ohren. Ich hätte ihre Füße küssen sollen, nur die Füße. Das weibliche Geschlecht, die Unantastbarkeit, quälende Bilder aus der Vergangenheit. Ich ballte die Fäuste im Lehm und riß mich von dem Bild los, und der Regen prasselte wieder laut und heftig. Ja, el pueblo del campo. Alle paar Monate taucht hier ein wilder, zusammengewürfelter Haufen auf, um eine Unterstützung für die Revolution einzufordern. Und die darf nicht zu gering ausfallen. Ein angemessener Beitrag entspricht in etwa dem Monatseinkommen. Und wenn du das letzte Mal die andere Seite unterstützt hast, dann bist du ein Verräter. Und welche Seite vor dir steht, das mußt du erraten.
Auch bei Gregor und mir hatte es mit einer Unterstützung für die Revolution angefangen. Das ist normal, in Bauerndörfern, auf Busreisen oder auch woanders. Der Busfahrer hält an, und du sitzt da, eingequetscht zwischen Pappkartons, dem Qualm von schwarzem Zigarettentabak, Cumbias, Gefieder, Kleinkindern und den breiten Gesäßen ihrer Mamas. Sitzt da und hoffst, daß es nicht die Mama ist, die jetzt aussteigen will, denn nach langem Kampf hat sich dein Sitzfleisch der Holzkante der Bank endlich angepaßt, und das breite Gesäß ist so etwas wie körperlich vertraut geworden. Wenn sie eines ihrer Kleinkinder wiegt oder sich ihre Füße im Takt der Musik bewegen, dann rubbelt sich ihr weiches Fleisch an deinem, vom Knie an aufwärts bis zur Schulter. Und deine Muskeln haben es aufgegeben, sich dagegen zu wehren. Und du machst die Augen zu und fühlst, daß es auch anderes Fleisch sein könnte. Und irgendwann wird es egal, wessen Fleisch es ist.

und hier geht's weiter ...


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